Instrumente, Wiesbaden - Bergkirche

Die Orgel Bergkirche Wiesbaden

[soliloquy slug=“die-orgel-wiesbaden“]

Disposition

I. Hauptwerk
Bourdon 16‘
Principal 8‘
Gamba 8’
Flöte 8‘
Salicional 8‘
Octave 4‘
Spitzflöte 4‘
Octave 2‘
Mixtur IV 1 1/3‘
Trompete 8‘
II. Oberwerk
Gedeckt 8‘
Quintatön 8‘
Principal 4‘
Rohrflöte 4‘
Waldflöte 2‘
Sesquialtera II 2 2/3‘
Cymbel III 1’
Krummhorn 8‘
Tremulant
III. Schwellwerk
Stillgedeckt 16‘
Principal 8‘
Liebl. Gedeckt 8‘
Viola 8‘
Schwebung 8‘
Fugara 4‘
Blockflöte 4‘
Nasard 2 2/3’
Flageolet 2‘
Terz 1 3/5‘
Scharff IV 1 1/3‘
Trompette Harm. 8‘
Oboe 8‘
Tremulant
Pedal
Grand Bourdon * (2016) 32‘
Violon 16‘
Subbass 16‘
Stillgedeckt * 16‘
Octavbass 8‘
Violoncello 8‘
Gedecktbass * 8‘
Choralbass 4‘
Nachthorn 2‘
Rauschpfeife IV 2 2/3’
Posaune 16‘
* Transmission aus Schwellwerk
Koppeln
III – II
III – I
II – I
III – P
II – P
I – P
I/I 16’ 2016
II/II 16’ 2016
III/III 16’ 2016
III/III 4’ 2016
Trakturen
Elektro-Pneumatische Tontraktur (Steinmeyer-Taschenlade)
Elektro-Pneumatische Registersteuerung
2 Freie Kombinationen
Organo Pleno
Manual 16‘ ab
Zungen ab
BUS-System
Setzeranlage mit Touchscreen
Tonumfang
C – a’’’ / C – f’
Stimmung
Billeter 440 Hz / 18° C
Winddruck
Hauptwerk 80 mm Ws
Oberwerk 80 mm Ws
Schwellwerk 85 mm Ws
Pedalwerk 80 mm Ws
Sachberatung
Thomas Wilhelm

Die Orgel der Bergkirche Wiesbaden

Die 1877 bis 1879 nach Plänen von Johannes Otzen errichtete Bergkirche Wiesbaden erhielt als Erstausstattung eine Orgel der Ludwigsburger Firma E. F. Walcker & Cie. mit 20 Registern auf zwei Manualen und Pedal. Ihr Pfeifenwerk ging 1930 in einem Instrument von G. Fr. Steinmeyer auf, das wesentlich großzügiger disponiert war. Zur Unterbringung des Werkes mußte der gesamte rückwärtige Emporenbereich genutzt werden, dem der vorhandene neugotische Prospekt vorgeblendet wurde.

In der damaligen Planungsphase wurde auch Albert Schweitzer konsultiert,

dessen Gedanken jedoch allerhöchstens teilweise in die Konzeption einflossen, auch aus orgeltechnischen und architektonischen Gründen.
Bei ihrer Fertigstellung 1931 verfügte die Steinmeyer-Orgel über 37 Register auf drei Manualen und Pedal, zuzüglich 2 Transmissionen und 2 vakante Kanzellen. In technischer Hinsicht wurden die für die Werkstatt charakteristischen Taschenladen mit elektropneumatischer Traktur verwendet. Die Disposition stand im Spannungsfeld zwischen Romantik, Orgelreform und Orgelbewegung.
Auf Betreiben des ab 1935 an der Bergkirche tätigen Organisten Hanns Brendel wurden an der fast neuen Orgel fortwährend Veränderungen durchgeführt, um die jüngsten Erkenntnisse auf dem Gebiet des Orgelbaus umzusetzen. Diese Periode endete erst mit dem Weggang Brendels im Jahr 1959. 1973/74 wurde neben einer Reinigung das Pfeifenwerk von vier Registern erneuert und 1981 eine Vox coelestis 8’ aus gebrauchtem Pfeifenwerk eingesetzt.
Durch die fortwährenden Umbauten war ein Instrument entstanden, das einige Kuriositäten in sich barg. Es verfügte u.a. über zwei konische 8’-Register im I. Manual, zwei 4’-Rohrflöten und zwei Krummhörner in der 8’-Lage. Klanglich präsentierte sich die Orgel durchaus angenehm mit einigen gelungenen Farben, zu Lasten eines überzeugenden Plenums oder Tutti. Der experimentelle Charakter kam Musik des 20. Jahrhunderts, namentlich Messiaen, durchaus entgegen, barocke oder romantische Musik ließ sich aber kaum mehr plausibel darstellen.

Die Orgeltechnik war bei den Umbauten kaum angetastet worden und funktionierte trotz ihres Alters störungsfrei.

Aufgrund der musikalischen Probleme war eine unveränderte Erhaltung des Bestandes nahezu ausgeschlossen. Eine Restaurierung auf den Erstzustand von Steinmeyer 1931 hätte aufgrund der tiefgreifenden Änderungen einen großflächigen Neubau des Pfeifenwerkes erfordert. Darüber hinaus wären die klanglichen Defizite nur zum Teil behoben worden: Das mit 13 Registern groß besetzte Schwellwerk verfügte ursprünglich nur über ein Zungenregister und entsprach damit nicht einmal den Vorstellungen der elsässischen Orgelreform, das helle, orgelbewegte Positiv stand dem dunklen, romantischen Hauptwerk nahezu unvermittelt gegenüber.
Die guten Erfahrungen des Autors mit technisch ausgereiften und klanglich vorteilhaften Taschenladen sowie die überlegt und sorgfältig gearbeitete Traktur führten zur Empfehlung, die technische Anlage der Orgel beizubehalten, auch wenn – durch die Brille des historisch informierten Orgelbaus betrachtet – intendierter Werkaufbau und frei aufgestellte, chromatisch verschnittene Windladen einen Kontrast darstellen.
Das von Winterhalter realisierte Konzept hat der Orgel ein neues klangliches Gesicht gegeben, das nach Überzeugung aller Beteiligten das Instrument für zukünftige Aufgaben ertüchtigt.

Die nun vorhandenen Klangressourcen sind für verschiedenste Stile geeignet, ohne eine innere Geschlossenheit aufzugeben.

Schon durch die Entscheidung, Register aus den Umbauphasen beizubehalten, wurde von einer Rückführung der Orgel auf den Erstzustand von 1931 Abstand genommen. Andererseits sollte aus Achtung vor den Leistungen der Firma Steinmeyer, unmittelbar vor der Wiesbadener Orgel waren die Großorgeln von Passau und Trondheim entstanden, nicht noch weiteres Material von 1931 verloren gehen. Dennoch durfte angesichts der reichhaltigen kirchenmusikalischen Arbeit an der Bergkirche kein Nischen­instrument entstehen, sondern es sollte ein selbstbewußter Akzent innerhalb der Wiesbadener Orgellandschaft gesetzt werden.
Zu weiten Teilen deckten sich die klanglichen Erfordernisse mit dem eklektischen Stil der frühen Orgelbewegung. Für das gewünschte Klangvolumen mußte eine Grundstimmenbasis hergestellt werden, wie sie ehemals vorhanden war. Für die Funktion eines Récit expressiv mußte das Schwellwerk eine Trompete 8’ erhalten. Deren Einbau war nur auf der Oberlade möglich und mußte zu Lasten eines labialen 8’-Registers gehen. Für ein lückenloses Registercrescendo war folglich eine neue Ordnung zu schaffen unter gleichzeitiger Berücksichtigung der gegebenen Platzverhältnisse. Das führte zu einer Lösung, die Elemente des symphonischen Orgelbaus aus Deutschland und Frankreich kombiniert:

  • Für die Trompete 8’ mußte eine Bauweise gewählt werden, in der Brillanz und Grundtonentwicklung gleichermaßen verwirklicht sind.
  • Da eine separate Flöte 8’ entfallen mußte, wurde das Lieblich Gedeckt 8’ nach dem Vorbild Walckers mit doppelten Labien im Diskant gefertigt, wie es auch ursprünglich vorhanden war.
  • Für Streicher und Schwebung 8’ wurde das klangstärkere französische Vorbild gewählt, das in der Synthese gut mit dem Lieblich Gedeckt 8’ harmoniert.
  • Für eine optimale Schwellwirkung wurden die Jalousien mit zusätzlichen Filzen versehen.
  • Mit der französisch geprägten Viola 8’ harmoniert die im Hauptwerk eingefügte Gambe 8’ von Steinmeyer sehr gut, die eine etwas weitere Mensur aufweist als das ursprüngliche Register von Walcker

Vor allem im Positiv wird die gefundene Lösung in glücklicher Weise durch die Raumakustik unterstützt. Durch die frei aufgestellte und großzügig ausgelegte Windlade ist die Aussprache namentlich der Grundstimmen günstig. Das Principal 4’ von 1901 aus Werkstattbestand ist de facto ein Geigenprincipal, was zur Einbindung der Zimbel bei fehlendem prinzipalischen 2’ gewählt wurde. Damit korrespondiert die 1950 aus einem Prinzipal hergestellte, überweite Rohrflöte 4’. Bei gleichzeitigem Spiel entsteht der Eindruck eines weiten 4’-Prinzipals, die klangliche Wirkung der Expressionen wird dann nahezu vollständig absorbiert. Durch die günstigen akustischen Eigenschaften kann das Positiv trotz seiner barocken Disposition in gewissen Grenzen als II. Manual im romantischen Sinn verwendet werden. Das Krummhorn von 1931 mit seinen im letzten Viertel aufgeweiteten Kupferbechern besitzt einen sanften Klarinettenklang, der noch mit dem Quintatön gefärbt werden kann.
Das Mixturkonzept wurde nach klassischen bzw. neoklassischen Vorbildern angelegt. Elemente davon waren zum einen schon 1931 vorhanden. Zum anderen verspricht diese Lösung eine größere Flexibilität gegenüber dem Steinmeyer-Zustand, der im I. Manual die Walckersche Terzmixtur übernahm. Deren Zusammensetzung entsprach ab c˚ der eines vierfachen Cornettes. Über die im Positiv neu disponierte Sesquialtera ist diese Farbe dennoch vorhanden, außerdem können damit barocke Terzplena gebildet werden.
Ein Element, das zur dispositionellen Gestaltung hinzutritt, ist die neue SPS-Steuerung für die Trakturen. Zunächst bestand der Wunsch nach einer Setzeranlage. Die aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet der Orgelelektrik erforderten darüber hinaus eine Absicherung der Stromkreise. Daher wurde die Entscheidung getroffen, keine separaten Anlagen sondern ein modernes Traktursystem einzubauen, um darüber hinaus zusätzliche Koppelmöglichkeiten realisieren zu können. Das originale Innenleben des Spieltisches blieb erhalten, ist jedoch nur noch teilweise in Benutzung. Die bei den standardisierten Steinmeyer-Spieltischen auftretenden leeren Registerschalter wurden mit den wichtigsten Zusatzfunktionen belegt. Alle weiteren Funktionen und die Setzeranlage werden über den separaten Touchscreen bedient.

Durch die Transmissionskanzelle für den labialen 16’ des Schwellwerkes wurde eine klanglich enorm bereichernde Schaltung möglich, die des Grand Bourdon 32’.

Glücklicherweise besitzen dafür Violon 16’ und Lieblich Gedackt 16’ günstige Voraussetzungen, so daß eine überzeugende 32’-Wirkung entsteht.
Die Neukonzeption der Orgel der Bergkirche Wiesbaden ist nicht die erste Arbeit dieser Art, die in den vergangenen Jahren durchgeführt wurde. Dennoch hat sie bedenkenswerte Ansätze verfolgt. Die konzeptionelle Tiefe unterscheidet sie von der ein oder anderen Umintonation oder willkürlichen Erweiterung, die sich mit elektrischer Traktur vermeintlich leicht realisieren läßt.

Thomas Wilhelm