Hamburg Stellingen, Instrumente

Die Orgel Evang.-Luth. Kirche Hamburg – Stellingen

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Disposition

I. Hauptwerk
Principal 8‘
Rohrflöte 8‘
Salicional* 8‘
Quintadena 8‘
Octave 4‘
Spitzflöte 4‘
Traversflöte* 4‘
Fugara* 4‘
Sesquialter II 2 2/3’
Quint major** 2 2/3’
Superoctave 2‘
Mixtur IV-V 1 1/3‘
Quint minor** 1 1/3‘
Trompete* 8‘

II. Nebenwerk
Gedeckt 8‘
Salicional 8‘
Quintadena* 8‘
Traversflöte 4‘
Fugara 4‘
Sesquialter II* 2 2/3’
Superoctave* 2‘
Flageolet 2‘
Scharff III 1‘
Trompete 8‘
Dulcian 8‘

Pedal
Subbass 16‘
Octavbass 8‘
Bassflöte*** 8‘
Bassoctave*** 4‘
Posaune 16‘
Trompete*** 8‘

* Wechselschleife
** Vorabzug
*** Extension

Koppeln
SUB
II-I
II-I
I-P
II-P
SUPER II-P
Tremulant
Trakturen
Mechanische Tontraktur
Mechanische Registersteuerung
Winddruck
Manualwerke 72 mm Ws
Pedalwerk 85 mm Ws
Tonumfang
Manual C – a’’’
Pedal C – f’
Stimmung
Billeter 440 Hz/16°
Sachberatung
Hans-Martin Petersen

Kleinod in der Hamburger Orgellandschaft

In der Hansestadt Hamburg kann man auf eine große Orgeltradition zurückblicken. Der bedeutende Forscher der norddeutschen Orgelgeschichte, Gustav Fock, stellte fest: »Den Orgelbauerfamilien Scherer, Fritzsche und Schnitger, sowie den vielen sich um sie gruppierenden Kleinmeistern ist es zu verdanken, dass Hamburg sich unter allen Städten diejenige mit der ruhmreichsten Vergangenheit im Orgelbau nennen darf.« Auf die Familie Scherer geht der ›Hamburger Prospekt‹ mit den freistehenden Pedaltürmen zurück, der aus Mitteldeutschland stammende Fritzsche brachte etliche bedeutende Neuerungen in die norddeutsche Orgellandschaft und Arp Schnitger, dessen 300. Todesjahr im kommenden Jahr begangen wird, war der weltweit erfolgreichste Orgelbauer seiner Zeit. Von Hamburg ging dann auch die norddeutsche Orgelbewegung in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, in deren Folge dann Hans-Henny Jahnn und später der international erfolgreiche Orgelbauer Rudolf von Beckerath wegweisend wirken konnten.
Nach den schweren Verlusten im 2. Weltkrieg kam es in Hamburg, wie überall in der Bundesrepublik zu Neu- bzw. Wiederaufbauten von Kirchen und Orgeln, die selten das handwerkliche und künstlerische Niveau früherer Epochen erreichen konnten. Dies hatte vor allem negative Wirkungen auf die Nachhaltigkeit der Instrumente, die meist mit minderwertigen Materialien in kurzen Lieferfristen aufgestellt werden mussten.
Im Hamburger Stadtteil Stellingen wurde 1953 die zerstörte neugotische Kirche durch eine schlichte Saalkirche ersetzt. Zwei Jahre später erhielt sie eine neue Orgel der Lübecker Werkstatt E. Kemper mit 27 Registern verteilt auf drei Manuale (mit Rückpositiv) und Pedal, einem freistehenden elektrischen Spieltisch und einem für die Zeit typischen Freipfeifenprospekt. Nach 60 Jahren war dieses Instrument aus technischen und musikalischen Gründen abgängig, so dass ein Neubau geplant werden musste. Drei renommierte Firmen wurden gebeten, ein Angebot abzugeben. Nach eingehender Prüfung, Besichtigung von Referenzinstrumenten und intensiven Verhandlungen mit der Hamburger Denkmalpflege wurde die Schwarzwälder Orgelbauwerkstatt Winterhalter mit dem Bau der neuen Orgel beauftragt.
Vor Aufstellung der Orgel in der Kirche wurde der gesamte Raum saniert und mit einer neuen Farbfassung versehen.
Der Orgelneubau in Stellingen erhielt eine besondere Förderung und Ehrung durch Dr. Carl Claus Hagenbeck, der für dieses Projekt die Schirmherrschaft übernahm.
Die Abnahmeprüfung der Orgel fand am Tag vor der Einweihung statt, die Bewährungsprobe im Orgelkonzert am Sonntag den 27. Mai 2018 mit Prof. Matthias Neumann. Er wählte ein für die überschaubare Größe der Orgel ambitioniertes Programm, mit dem Ziel, das Instrument in seiner musikalischen Vielfalt zu demonstrieren. Zunächst erklang Dietrich Buxtehudes Toccata in F mit ihren häufig wechselnden Affekten, alles exzellent eingerichtet, so dass sich die neue Hamburger Orgel für den barocken Meister ihrer Region bestens gerüstet zeigte. Dies wurde auch deutlich bei der Partita ›Freu dich sehr, o meine Seele‹ des Lüneburger Bach-Lehrers Georg Böhm. Hier kamen die vorzüglichen Solostimmen zum Einsatz, aber auch die reichen Farben der Flöten und der obertönigen Quintadena. Zwei Sätze aus ›L’ Ascension‹ von Oliver Messiaen führten in eine späte Epoche und eine Klangwelt, der man eigentlich ein größeres Instrument in einem großen Raum wünscht. Allen Zweifeln zum Trotz gelang dieser Ausflug aufgrund der klugen Ausschöpfung einer enormen klanglichen Vielfalt, die diese Orgel über die Möglichkeiten der 19 Pfeifenreihen hinaus bietet. Hier zeigte sich, wie später bei der großen Choralfantasie von Max Reger (Halleluia! Gott zu loben…), dass vom Orgelbauer ein künstlerisches Gesamtkonzept mit zahlreichen Kombinationsvarianten realisiert wurde,

wo viele Stimmen  in verschiedenen Zusammenstellungen zu neuen, unerwarteten Klangergebnissen führen.

Das Finale der großen Reger-Fuge brachte dann auch die Wirkung der Querkoppeln zum Tragen sowie den Beweis für einen stabilen Wind, der sich im gesamten Konzert immer wieder auch von seiner musikalisch flexiblen Seite zeigte. In verschiedensten Kombinationen konnten auch die drei Zungenstimmen überzeugen. Die Manual-Trompete 8’ und die Posaune 16’ im Pedal sind angemessen kräftig im Plenum und auch für einen cantus firmus bestens geeignet. Der Dulcian 8’ im 2. Manual ist ein vorzügliches Soloregister, nicht nur für Musik des 17. /18. Jahrhunderts. In der Mitte des Programms zelebrierte Matthias Neumann die Trio-Sonate Es-Dur von J. S. Bach mit hörbarer Freude über eine exzellent leichtgängige Tontraktur. Hier wurde die Begegnung von Instrument und Spieler auf hohem Niveau am deutlichsten. So galt der große Applaus beiden gleichermaßen. Eine große Stunde der Orgelkunst wirkte in allen Facetten vielversprechend für das, was jetzt musikalisch in der Stellinger Kirche möglich geworden ist.
Trotz der musikalischen Vielfalt sollte man nicht von einem Universalinstrument
sprechen. Die neue Orgel von Claudius Winterhalter besitzt eine klassische
Disposition auf einer gemeinsamen Windlade für die Manualwerke mit bewährten Möglichkeiten, die 19 Pfeifenreihen vielfältig zu nutzen. Es gibt zwei Vorabzüge, insgesamt sieben Wechselschleifen und drei Extensionen, so dass 29 Registerzüge und zwei Halbzüge zur Verfügung stehen. Neben den drei Normalkoppeln erweitern eine Sub– und eine Superkoppel das Klangspektrum. Diese Zusätze führen zusammen mit dem gelungenen Klangkonzept zu dem musikalischen Reichtum dieser Orgel. Dem ist allerdings der Verzicht auf eine klare räumliche Trennung und der damit verbundenen klanglichen Differenzierung zwischen den Manualwerken geschuldet, was aufgrund der Platzverhältnisse freilich auch bei einer anderen Anordnung kaum zum Tragen gekommen wäre. So konnte nach gründlicher Abwägung die gewählte Variante für diese Kirche favorisiert werden.
Das progressive Windsystem mit zwei Faltenbälgen (innfaltig) hilft, dass zusammen mit der leicht ungleichschwebenden Stimmung nach Billeter lebendig musiziert werden kann ohne die ungeliebten starren Orgelklänge, die in so manchem Konzert die Freude am Zuhören schmälern können.

Zu einem guten Klangkonzept gehört eine vorzügliche technische Anlage,

die neben der Funktionssicherheit dem Spieler differenzierte musikalische Impulse ermöglicht. Die Winterhalter-Orgel ist rein mechanisch mit klassischen Schleifladen aus Massivholz und witterungsbeständigem Verbundmaterial. Wegen der knappen Platzverhältnisse auf der Empore wurde für die Manualwerke eine durchschobene Lade gewählt. So befinden sich alle Register auf einer Ebene, was wesentlich zur Stimmstabilität beiträgt. Zu Gunsten einer harmonischen Klangverschmelzung folgt die Pfeifenaufstellung in diatonischer Anordnung. Die Pedalpfeifen befinden sich rechts und links neben der Manuallade. Alle Teile der Orgel sind so angeordnet, dass ein optimaler Zugang über ein Podest hinter der Orgel für die Wartung, auch für das Nachstimmen der Zungen gewährleistet ist.
Die zweiarmige Tontraktur ist angenehm leichtgängig bei gut spürbarem Druckpunkt, dies auch im gekoppelten Zustand. Trakturbegleiter sorgen für eine präzise Ventilarbeit. Für die Abstrakten wählt die Firma Winterhalter seit Jahren statt der bewährten Holzabstrakten hochfestes Carbonmaterial. Auch dieses Material bietet eine hohe Funktions- und Klima-sicherheit und ist vorteilhaft in der Hand-
habung beim Aufbau der Orgel.
Das mechanische Regierwerk aus behandeltem geschwärztem Vierkanteisen, massivem Eichenholz und Gewindestücken aus Edelstahl funktioniert geräuscharm, präzise und leichtgängig.
Die vorgebaute Spielanlage im Zentrum der Orgel ist schlicht und elegant gestaltet und passt ideal in die Gesamtästhetik der Prospektfront. Die Untertasten der Manualklaviaturen sind mit Ebenholz, die Obertasten mit weißem Bein belegt. Das Pedalklavier ist aus leicht geräucherter Eiche gefertigt. Die Registerzüge aus Ebenholz mit handbeschrifteten Porzellanschildchen sind erfreulich übersichtlich angelegt, so dass jeder Spieler schnell die Anlage mit ihren Wechselschleifen erfassen kann.
Die Prospektgestaltung trägt unverkennbar die künstlerische Handschrift des Erbauers. Hier ein dem Raum angepasster schlichter, symmetrischer und doch lebhafter Aufbau mit fünf gleichhohen Pfeifenfeldern und einer wellenförmigen Labienführung. Die Abschlüsse über den Pfeifen konnten als die für die Werkstatt Winterhalter typischen Schallreflektoren wegen mangelnder Höhe nur angedeutet werden, sie sind golden gefasst und beleben das noble Farbkonzept. Sehr gut gelöst ist auch das Schließen der Brüstungsmitte. Durch transparente senkrechte Leisten, gefasst in der hellen Orgelfarbe, bleiben Orgelsockel und Spielanlage sichtbar. Die neue Orgel in Hamburg-Stellingen präsentiert sich als Kunstwerk aus einem Guss. Sie ist ein Geschenk an die Kirchenmusik in der Gemeinde,

eine kulturelle Bereicherung für den Stadtteil und ein bemerkenswerter Gewinn für die Hamburger Orgellandschaft, 

in der bislang noch kein Instrument der badischen Werkstatt aus dem beschaulichen Oberhamersbach aufgestellt wurde. Möge die Ausstrahlungskraft dieser Orgel viele Gottesdienst- und Konzertbesucher erreichen und erfreuen und dazu beitragen, das die im Jahr 2017 von der Unesco zum immateriellen Weltkulturerbe ernannte Orgelkultur weiter an Bedeutung gewinnt.

Hans-Martin Petersen