Instrumente, Stuttgart - Domkirche  

Chororgel Domkirche St. Eberhard Stuttgart

Disposition

MANUAL I
PRINCIPAL 8‘
FLAUT MAJOR 8‘
OCTAVE 4‘
SUPEROCTAVE * 2‘
MIXTUR III/IV 2‘
MANUAL II (SCHWELLWERK)
DOPPELGEDECKT 8‘
VIOLA 8‘
FLAUT TRAVERS 4‘
GEMSHORN 4‘
TROMPETTE 8‘
PEDAL
SUBBASS 16‘
GEDECKTBASS ** 8‘
* VORAUSZUG MIXTUR
** EXTENSION SUBBASS
KOPPELN
II-I II-I SUB I-P II-P
TREMULANT
MYSTERIUM EBERHARDI
TONUMFANG
C – G³ / C – F¹
STIMMUNG
GLEICHSTUFIG A° 440 HZ/15° C
SACHBERATUNG
MARTIN DÜCKER

„Unerhöhrte“ Perspektive

Zwei Jahreszahlen markieren den langen Weg der zum Bau einer Chororgel in der Domkirche St. Eberhard zu Stuttgart führte.

Im Jahr 1955 wurde die im 2. Weltkrieg völlig zerstörte Eberhardskirche, entgegen allen Ratschlägen, wieder in ihrer alten Form aufgebaut. Die erste, 1811 erbaute Eberhardskirche war ursprünglich eine evangelische Kirche, genauer die Kirche des württembergischen Königs auf seinem Schloß Solitude, die dieser den Katholiken schenkte. Sie zeichnete sich durch die für evangelische Kirchen so typischen Seitenemporen aus. Auch die zweite Eberhardskirche bekam wieder eine „klassische“ Musikempore und zwei über die gesamte Länge des Hauptschiffs geführte, tief gestaffelte Seitenemporen.

Beim Umbau der Domkirche 1991 richtete man auf der rechten Seitenempore einen großzügigen Platz für Chor und Orchester ein. Diese Umbaumaßnahme wurde nur durch den retrospektiven Wiederaufbau der Eberhardskirche möglich. Heute bieten diese Seitenemporen ungeahnte Musiziermöglichkeiten und schon oft hat die Dommusik zwei-, drei- und auch vierchörig von dort aus gesungen. Nicht zu unterschätzender Nebeneffekt ist dabei, dass sich die Chöre als Teil der Gottesdienst feiernden Gemeinde empfinden können und auch so wahrgenommen werden. Hinzu kommt ein wichtiger akustischer Vorteil: die Seitenemporen haben für die Vocalmusik eine günstigere Klangabstrahlung als die Orgelempore. So war es nur konsequent, die Idee einer Chororgel zu formulieren, ein schlüssiges Konzept zu kreieren und in geduldiger Überzeugungsarbeit die Entscheidungsträger zu begeistern.
Die Wünsche an das klangliche Profil der Chororgel waren schnell umrissen: Begleitung der Chorgruppen der Dommusik St. Eberhard von den zarten Kinderstimmen der Mädchenkantorei bis hin zur Dvorak Messe des Domchors, Begleitung von Solisten, Generalbassspiel, Einbindung in den Orchestersatz des „Salzburger Kirchentrios“ bis hin zur Bruckner Messe. Selbstverständlich sollte auch die Begleitung der Gemeinde möglich sein.
Durch die Realisierung der neuen Chororgel und aufgrund der günstigen akustischen Raumakustik bekommt die Domkirche eine seltene neue Disziplin mit perfekten Aufführungsbedingungen hinzu: das Spiel auf zwei Orgeln!
Die Heimat des Spielens und Improvisierens auf zwei und mehr Orgeln ist in den Ländern Südeuropas zu finden. In den großen Dom – und Kollegiatskirchen Italiens, Frankreichs und Spaniens befinden sich noch heute mindestens zwei Orgeln.

Eine einzigartige Anlage mit gar vier Orgeln befindet sich seit ihrer Rekonstruktion in den 90-er Jahren wieder im Dom zu Salzburg. An den Vierungspfeilern befinden sich kleine Emporen mit je einer Orgel zur Begleitung von Solisten und Instrumentalisten. W.A. Mozart hat in seiner Salzburger Amtszeit seine Kirchenmusik mit dieser Orgelanlage aufgeführt. Auch im badischen Kloster Salem befand sich eine prachtvolle Anlage mit vier Instrumenten des ins burgundische ausgewanderten, schwäbischen Orgelbauers Karl Joseph Riepp (1710 – 1775).

Dem Musizieren in der Stuttgarter Domkirche wird durch die neue Chororgel eine bislang wahrhaft “unerhörte” Perspektive eröffnet. Mit “nur”10 Registern in einem überraschend großrahmigen Klanggestus, begegnet sie der Hauptorgel auf “Augenhöhe” (III/P 57, Albiez 1982).

Dieser Effekt wird unterstützt durch die Geschichte und einer praxisgerechten Positionierung der Chororgel vor der Emporenecke, wo Wandnähe und Deckenhöhe eine besonders günstige Schallreflexion erzeugen.
Das Repertoire der labialen Klangfarben bezieht sich auf die deutsche Orgeltradition des frühen 19.Jahrhunderts mit den epochalen Klangideen des genialen Ludwigsburger Orgelbauers Eberhard Friedrich Walcker (1794–1872), dessen Orgeln von Schramberg (1844) und Neuhausen a.d. Fildern (1854) Pate standen. Die einzige Zungenstimme folgt hingegen der wunderbaren “Trompette 8´“ des Pariser Orgelbau-Großmeisters Aristide Cavaillé–Coll (1811–1899) in der Chororgel von Trouville (1894).

Was aber ist nun das “Neue” an der Stuttgarter Chororgel aus dem Jahre 2006? Es ist das “Arrangement”, die Zusammenstellung mischfähiger Klänge für die vielschichtigen Begleitaufgaben, als Solistin und für den Dialog mit der Hauptorgel. Sie stellen Zeichnungsfähigkeit, Tiefenschärfe, Klarheit, Fülle, Kraft, Milde, konsonantische Artikulation, vokale Tragfähigkeit und “Klangpoesie” in hundertfältigen Valeurs mit nahezu bruchlosen Übergängen zur Verfügung. “Arrangements”, die es so nur in Stuttgart zu hören gibt.
Die beiden Manualwerke bilden zusammen ein “normales” romantischen Hauptwerk, dem eigentlich nur noch der Bourdon 16´ und das Cornett fehlten. Dem Klanggestus folgend, haben alle offenen Pfeifen Expressionen.
Das 1. Manual ist das principalbetonte Hauptwerk, das den typischen Klang einer “vollen Orgel” vorstellt und mit “Flaut major 8´” einen Flötenklang mit hoher Mischungs – und Glättungsfähigkeit besitzt, ausgelegt zur Überformung aller Farbwerte, aber auch geplant als eine mögliche Solofarbe für die “Orgelsolomessen” der Wiener Klassik. Die 3- bis 4-fache Mixtur mit tiefem Glanz und Fülle, lässt auf dem Zug “Superoctave” die 2´-Reihe hören.
Das 2. Manual ist als geräumiges Schwellwerk angelegt und ermöglicht so den Klangenergien perfekte Abstrahlung und Durchmischung: dem tragfähigen Doppelgedackt 8´, der Viola 8´, dem kleinen Bruder des Principals, der deutlichen Traversflöte 4´, dem still versponnenen Gemshorn 4´ und schließlich dem “General”, der Trompette 8´, die der Chororgel eine unmissverständliche Größe verleiht.
Das Pedal braucht zuförderst nur die Basslinien darzustellen, originale Pfeifen aus der Werkstatt E. Fr. Walckers um 1880 entstanden, bilden das Fundament, den Subbass 16´, der um 12 Töne erweitert, noch den Klang eines Gedacktbass 8´ ermöglicht.
Schließlich kommt zu den normalen Koppeln I/P, II/P und II/I noch eine Suboktavkoppel II/I hinzu, die die 8´- Klänge in solche zu 16´ transponiert. Mit dieser Koppel erweitert sich aber auch die bewusst doppelt besetzte 4´-Lage zu Gemshorn 8´ und Traversflöte 8´. Solche Verlagerungen wiederum verwandeln dann die Normalkoppel II/I in eine Superoktavkoppel. Das sind Vexierspiele für den wissenden Organisten, eine Einladung, das Optimum erhören, denn schließlich ist Musik nicht die Kunst des “Machens” sondern des “Hörens”!

Das äußere Erscheinungsbild der Chororgel war Gegenstand umfangreicher Beratungen. Die beim Umbau der Kirche 1990/91 von Architekt Bert Perlia sensibel formulierte Symmetrie durfte nicht gefährdet werden.

Größe und bauliche Masse des Orgelkorpus sollten sich in den Raum einfügen, gleichwohl aber in Form und Ausdruck aktuell und eigenständig sein, ohne den Blick von den Zentren Altar, Ambo und Tabernakel abzulenken.

Eine Adaption des imposanten Hauptorgelprospektes von Prof. Elmar Wertz kam nicht in Frage.
Von den eingereichten Wettbewerbsideen überzeugten die künstlerisch ungewöhnlichen und architektonisch einfühlsamen, bisweilen provokanten Vorschläge von Claudius Winterhalter. Auf schmalem Grundriss, teilweise frei über dem “Auge” des Treppenaufgangs gelagert, erhebt sich ein auf die Spitze gestellter Pyramidenstumpf. Er setzt sich zusammen aus zwei sich durchdringenden Kuben, deren äußere Abwicklung durch einen ausgewogenen Rapport aus Gehäuseflächen, gefächerten Prospektpfeifen und horizontalen Schwellerjalousien nachvollziehbar wird. Vor dem Hintergrund der geradwinkligen Raumschale sorgt die schräge Linienführung der neuen Chororgel für angenehme Spannung. Eine elegante, weiße Farbfassung unterstützt die skulpturale Plastitizät, erzeugt Ruhe und vermittelt zwischen Raum und Objekt. Die freigestellte Spielanlage wird von einer ausdrucksvollen Kettensägenarbeit des Bildhauers Armin Göhringer akzentuiert und vervollständigt das Gesamtbild.

Ein zusätzlicher Registerzug, der die rätselhafte Bezeichnung “Mysterium Eberhardi” trägt, bedarf noch der Erläuterung. Msgr. Erich Sommer, Dompfarrer von 1970–1986, “erfand” das “Eberhardswunder“. Es handelt sich um das Bild vom Heiligen Eberhard, dem Erzbischof von Salzburg, der seine schützende Hand segenbringend über den Domchor und seinen Leiter bei den Pontifikalämtern gehalten habe, so dass nach gelungener Ausführung eines vielleicht zu knapp geprobten Werkes von allen dankbar das “Eberhardswunder” wieder einmal bestätigt werden konnte. Bis auf den heutigen Tag hält der Heilige Eberhard schützend seine Hand über die Dommusik. Da lag es also nahe, der neuen Chororgel dieses “Wunder”zu inkorporieren.
Solche “Scherzregister” mit durchaus tieferer Bedeutung haben eine lange Tradition im Orgelbau. An der Gabler-Orgel in Ochsenhausen erscheint ein Ochse der “Kuckuck” ruft, an den Orgeln in den Münstern zu Straßburg und Freiburg droht der “Rohraffe”, im Trierer Dom flötet gar Gott Pan, an der Tauberbischofsheimer Orgel grunzt die “Tauberkröte” und an der Langhausorgel des Kölner Doms erscheint, winkend mit Jeckenmütze, der Dompropst. In Stuttgart aber erscheint in der Domkirche St. Eberhard der Heilige Eberhard mit der Segenshand und gütig lächelnd, geschnitzt von Alfons Heimburger aus Niedereschach.

Martin Dücker