Freiberg - Annenkapelle, Instrumente

Die Orgel Annenkapelle Freiberg

Disposition

I. HAUPTWERK
PRINCIPAL 8‘
BOURDON * 8‘
OCTAVE 4‘
ROHRFLÖTE * 4‘
DOUBLETTE * 2‘
MIXTUR III 1 1/3‘
II. NEBENWERK
GEMSHORN 8‘
BOURDON 8‘
ROHRFLÖTE 4‘
SESQUIALTER II 2 2/3‘
QUINTE ** 2 2/3‘
DOUBLETTE 2‘
TROMPETE 8‘
PEDAL
SUBBASS 16‘
GEDECKTBASS *** 8‘
* Wechselschleife
** Vorauszug
*** Extension Subbass
KOPPELN
I-P
II-P
II-I
SUB II-II DURCHKOPPELND AUF I
TREMULANT
TRAKTUREN
MECHANISCHE TONTRAKTUR
MECHANISCHE REGISTERSTEUERUNG
TONUMFANG
C – g’’’ / C – f’
STIMMUNG
BILLETER 440 HZ / 15° C
WINDDRUCK
 65 MM WS
SACHBERATUNG
REIMUND BÖHMIG
ALBRECHT KOCH

Gemütsergötzung

Die Gegend um Freiberg im sächsischen Erzgebirge verdankte den reichen Silber- und Zinnvorkommen sowohl den Gebirgsnamen als auch ihren Wohlstand. Als 1484 ein Stadtbrand den Dom St. Marien in Mitleidenschaft zog, entstand in kaum zwei Jahrzehnten ein ansehnliches neues Gotteshaus. Von der West- zur Südseite mit der spätromanischen Goldenen Pforte verlief ein Kreuzgang, der nur mehr in Teilen erhalten ist und im Westen, gegenüber des Domportals, mit der 1514 geweihten Annenkapelle abschließt.

Viele Generationen haben mit Architektur, Bildhauerei und Malerei zur kostbaren Ausstattung von Dom, Kapelle und Kreuzgang beigetragen.

Da aber Liturgie und Musik die dreischiffige Hallenkirche in besonderer Weise prägen, ist die flüchtige Musik mehrfach sinnbildlich vorhanden. Den Blicken vom Kirchenschiff durch den Lettner zunächst verborgen, haben sich auf dem Hauptgesims des Chors (der von 1541 bis 1694 als Grablege der albertinischen Wettiner diente) Engel zu einem himmlischen Konzert versammelt: 30 Musikengel begleiten auf teilweise originalen Musikinstrumenten jener Zeit sechs singende Engel.
Zur Begleitung der singenden Gemeinde und zu deren „Gemütsergötzung“ dienen im Kirchenschiff die beiden Orgeln von Gottfried Silbermann. Nach der Ausbildung bei seinem älteren Bruder Andreas in Straßburg, ließ er sich 1711 im hiesigen Dombezirk nieder und vollendete drei Jahre später mit der Domorgel sein erstes großes Instrument mit 44 Registern auf drei Manualen und Pedal. Für die nahegelegene Johanniskirche lieferte er 1719 eine kleinere Orgel mit 14 Registern auf einem Manual und Pedal, die seit 1939 eine neue Heimat auf der Lettnerempore im Mariendom gefunden hat. Beide Orgelgehäuse entwarf übrigens Domorganist Elias Lindner.
Gottfried Silbermann war für seine solide Handwerkskunst bekannt, die er sich gut bezahlen ließ. Dass die Stadtväter ihm den Orgelneubau für die Jacobikirche und für die nach einem Brand 1735 wieder eingeweihte Hauptkirche St. Petri übertrugen, spricht für seine Qualität – und die gut gefüllte Stadtkasse.
Heute besitzt keine Stadt mehr Orgeln von Gottfried Silbermann als Freiberg. Seine Orgelbaukunst, vor allem die sorgfältige Klanggestaltung, machte Schule und bestimmt bis heute den sächsischen Orgelbau. Zwar mussten sich seine Instrumente im Laufe der Zeit verschiedenen Geschmäckern anpassen, doch dem modischen Wandel ungeachtet hat solide Handwerkskunst durchaus Bestand.

Zum 300. Geburtstag der großen Domorgel wünschte sich Domkantor Albrecht Koch für die Annenkapelle ein klangschönes Instrument von vergleichbarer Qualität. Der freundliche, spätgotische Raum dient von Weihnachten bis Ostern der Domgemeinde als Winterkirche; der frühbarocke Altar an der langen Südwand kündet von der Himmelfahrt Christi. Den Besucher beeindruckt das auf zwei Säulen ruhende Schlingenrippengewölbe, dessen filigrane Adern beschwingt ihre Bahnen durch den Raum ziehen; die Außenwände hingegen schmiegen sich dem Verlauf der mittelalterlichen Gasse an. Für diesen bemerkenswerten Raum eine Orgel zu konzipieren, die zudem der Freiberger Orgellandschaft neue Impulse liefert, ist angesichts der prominenten Orgelnachbarschaft im Dom eine schöne, aber auch sehr anspruchsvolle Aufgabe.

Durchschreitet der Besucher die Pforte der Annenkapelle, erblickt er mit der neuen Orgel aus der Werkstatt von Claudius Winterhalter die gelungene Lösung dieser Aufgabe. Das Prospektbild wirkt durch seine Vierteiligkeit mit gerundeten Außenkanten und einem gotischen Labienbogen harmonisch, erhält aber durch eine „unharmonische“, dem Gewölbeverlauf entsprechende Höhenstaffelung mit gependelten Pfeifenfeldern eine subtile Spannung; deren Facetten entdeckt der Besucher bei seinem Gang durch den Raum.
Die vom Schwarzwälder Künstler Frieder Haser ausgeführte Farbfassung folgt der Idee einer zeitgemäßen Gestaltung im historischen Umfeld.

Ein roter, mehrschichtiger Farbaufbau mit heller Spachtelstruktur verleiht dem Instrument eine expressive Modernität in klassischer Anmutung.

Für die goldenen Zierrate entwickelte Claudius Winterhalter mit den Glas-
gestaltern Heinz und Rudi Teufel eine Methode, bei der echter, von Frieder Hasers Künstlerhand aufgetragener Goldlack auf die Glasschichten eingeschmolzen wird. Die Obelisken auf dem Gehäuse sind eine Reminiszenz an den spätgotischen Raum und stellen zugleich eine Beziehung zur Außenseite des Domchors her. In den „Musikalischen Haus- und Lebensregeln“ rät Robert Schumann: „Lerne frühzeitig die Grundgesetze der Harmonie“. Claudius Winterhalter hat dies erfolgreich getan.

Wie dieses Instrument wohl klingt? Domkantor Albrecht Koch nimmt am Spieltisch Platz und erkundet die elf Register, die auf zwei Manuale und Pedal verteilt sind. Die Manualstimmen stehen auf einer gemeinsamen Windlade, wodurch drei Stimmen mit Hilfe einer Wechselschleife auf dem ersten oder dem zweiten Manual gespielt werden können. Die artikulationsfreudige Mechanik aus Karbonfasern spielt sich auch mit beiden Oktavkoppeln angenehm. Der Organist entlockt dem Instrument die ersten Töne und schnell wird deutlich, dass die Annenkapelle kammermusikalische Qualitäten hat.
Als klangliche Basis dienen im ersten Manual die Prinzipalstimmen, beginnend mit dem klar ansprechenden, rund und obertonreich intonierten Prinzipal 8‘. Ihm steht der etwas leisere, dunkle Bourdon 8‘ zur Seite, den im Solospiel beinahe eine geheimnisvolle Aura umgibt, während im zweiten Manual die mild-liebliche Stimme des Gemshorns 8‘ wunderbar zeichnet und als Solostimme schöne Glanzpunkte setzt. Diese drei Registerpersönlichkeiten erlauben mannigfache Schattierungen. Dazu liefert der aus Schwarzwälder Fichte und Birnbaum gebaute Subbaß 16‘ das nötige Fundament; bei Bedarf steht ihm mit dem als Oktavauszug gebauten Gedecktbaß 8‘ noch ein kleiner Bruder zur Seite.
Mit großer Sorgfalt hat sich Intonateur Alois Schwingshandel dem Klang einer jeden Pfeife gewidmet, so auch der auf einer Wechselschleife stehenden Rohrflöte 4‘. Sie mischt sich wunderbar mit dem Bourdon, ist als Solostimme aber ebenso reizvoll wie die Trompete 8‘ im oberen Manual. Sie kann eine Gemeinde führen oder ein festliches Plenum erzeugen. An diesem Klangerlebnis hat, neben der soliden Windversorgung, die leicht ungleichstufige Temperierung nach Bernhard Billeter ihren Anteil.

Was sich zunächst wie ein Widerspruch liest, ist hohe Mensur- und Intonationskunst …

und daher brauchen weder die Winterhalter-Orgel noch ihre Schöpfer den direkten Vergleich mit den Silbermannschen Nachbarn im Dom zu scheuen. Dem Zuhörer wird dies spätestens bewusst, wenn Domkantor Koch in lebendigem Spiel die Prinzipalfamilie vereint, anschließend die Farbregister des zweiten Manuals hinzufügt und diesen warm-romantischen Klang mit der leuchtenden Mixtur bekrönt, die Alois Schwingshandel nach süd- und mitteldeutschen Barockvorbildern angelegt hat. Hier klingt nichts schrill – selbst wenn die Oktavkoppeln hinzutreten, umgibt den Besucher ein vornehm erhabener Orgelklang, der nie aufdringlich wird. Der Wunsch des Kirchenmusikers ist in Erfüllung gegangen.

Aus dem nahen Kreuzgang kommt ein leises Echo und dem Besucher scheint, als wollten hinter der Goldenen Pforte die Engel im Chor des Mariendoms in den Klang der neuen Orgel einstimmen. Vielleicht kommen sie in einer stillen Stunde zu einem Besuch vorbei.

Markus Zepf