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Neukomposition im Rokoko-Weltkulturerbe

Die Winterhalter-Orgel in der Wallfahrtskirche „Zum Gegeißelten Heiland auf der Wies“ bei Steingaden in Oberbayern

Es schien alles in Ordnung zu sein: Seit zweieinhalb Jahrhunderten steht im einmaligen Rokoko-Ensemble der Wieskirche (Landkreis Weilheim-Schongau) ein zierliches, dreiteiliges Orgelgehäuse. Millionen von Gläubigen sowie Kunst- und Musikfreunde erfreuten sich an seinem Anblick und wähnten dahinter die passende Orgel. Und in der Tat entstiegen dem grazilen Rankenwerk in Gottesdiensten, Konzerten und auf Tonträgern festliche, gleißende Töne. Manche, etwa die Besucher der Orgeltagung in München 1984, machte allerdings das quintige und allzu spitze Klangbild etwas stutzig.

Zwei Anläufe zur „wahren Barockorgel“

In das Rokoko-Gehäuse baute 1757 der Dirlewanger Orgelbauer Johann Georg Hörterich ein zweimanualiges Werk mit ca. 26 Registern. Es handelte sich dabei um ein Instrument mit typisch süddeutschem Konzept: Differenzierte Grundstimmen-Palette, geschlossenes Prinzipalplenum im Hauptwerk, knapp besetztes Pedalwerk und (zunächst) kein Zungenregister; letzteres wurde im 19. Jahrhundert ergänzt. Im Übrigen kam das Werk bis 1927 ohne nennenswerte Umbauten davon, was unter anderem damit zusammenhängt, dass die Wallfahrtskirche mehrfach aufgegeben werden sollte. Selbst 1917 entgingen die Prospektpfeifen vaterländischen Zugriffen.

Unter Federführung des Münchner Domorganisten Ludwig Berberich (1882–1965) entschied man sich Ende der 1920er Jahre für eine grundlegende Erneuerung, die von der damals renommierten und in jeder Hinsicht fortschrittlichen Orgelbau-Anstalt Willibald Siemann (München) ausgeführt wurde. Am Übergang von Spätromantik zur Orgelbewegung entstand eine Mixtur aus technischem Fortschritt und klanglicher Teil-Rückwendung: Einige Hörterich-Register und Gehäuseteile blieben erhalten. Manche Register wurden durchaus im Geist der Orgelbewegung hinzugefügt. Andererseits kamen füllige Stimmen und Tonumfangserweiterungen hinzu. Um diese unterzubringen, mussten unter anderem die Rückpositive nach hinten erweitert werden. Freilich wurden pneumatische Trakturen und allerlei Spielhilfen eingerichtet. Dieses Ensemble galt damals als wegweisend und war vor allem endlich bachtauglich.

Bereits eine Generation später zeigten sich die klanglichen und technischen Grenzen dieser Gemengelage. Auch waren nun Orgelbauer und Sachverständige aktiv, welche die Orgelbewegung strenger, geradezu puristisch verfolgten. Unter ihnen war der in Norddeutschland und Schweden ausgebildete, nun im nahen Kaufbeuren niedergelassene Orgelbauer Gerhard Schmid. Gemeinsam mit dem Sachverständigen und Augsburger Domkapellmeister Paul Steichele, tastete er sich im Wege eines faktischen Neubaus 1958/59 wiederum näher an ein barockes Konzept heran. Das Ergebnis war gleichsam eine norddeutsch-protestantische Nachkriegsorgel, die durchaus ambitioniert, aber dennoch in der oberbayerischen Wallfahrtskirche etwas „importiert“ wirkte: dünne, quintig intonierte Grundstimmen, steile Mixturen, zahlreiche, auch entlegene Obertonreihen, etliche neobarocke Zungenregister. 1980 vervollständigte die Erbauerfirma im Zuge einer Überholung dieses Klangkonzept.

Was dem Kirchenbesucher verborgen blieb

Auch Schmid übernahm Pfeifenwerk von 1757, ebenso von 1927 – freilich neu intoniert. Konsequenterweise hatte er wieder Schleifladen und eine mechanische Spieltraktur, mit den damals üblichen Materialien eingerichtet. Das geteilte Positv war ebenfalls wieder in seine Originalgehäuse gezwungen worden. Und in den Unterbau des Hauptgehäuses wurde zu ebener Erde ein schwellbares „Kniewerk“ eingepfercht. Irgendwie wurden auch zusätzliche Pedalregister und die inzwischen üblichen Tonumfänge auf dem kleinen, halbrunden Emporenraum untergebracht. Die 43 Register wurden elektropneumatisch von einer Zentrale gesteuert, die Claudius Winterhalter zutreffend als „falsch geparkten amerikanischen Straßenkreuzer“ bezeichnete; falsch geparkt deshalb, weil mit Blick zur Orgel – und nicht zum Herrn. Ein zu dirigierendes Musikensemble hatte neben diesem voluminösen Möbel mit seinen ausladenden Register- und Kombinationstableaus kaum noch Platz auf der Empore.

Nach immerhin rund 50 wackeren Dienstjahren präsentierte sich die Schmid-Orgel als nach wie vor gültiger Versuch, auf der Höhe der Zeit eine „echte“ Barockorgel zu schaffen. Intonationsdefizite, schwere Spielbarkeit und technische Mängel aufgrund begrenzter Wartungsmöglichkeiten, dämpften jedoch den Kunstgenuss merklich.

Drei Generationen Orgel – Markt der Möglichkeiten

Was tun mit einem zerschnittenen, mehrteiligen Rokoko-Gehäuse, in der ganzen Orgel verteiltem, umintoniertem Pfeifenwerk von 1757, einigen Registern von 1927 und der übrigen Anlagen von 1959. Erfreulicherweise fanden sich in der Werkstatt des 2004 verstorbenen Gerhard Schmid ein großer Karton weiterer Hörterich-Pfeifen sowie ein Großteil des barocken Spieltischgehäuses. Diese Materialien stellte sein Sohn, Orgelbaumeister Gunnar Schmid, für eine Wiederverwendung zur Verfügung.

Den 2008 angetroffenen Zustand hätte man restaurieren können, und eine der angeschriebenen Orgelbaufirmen hat das tatsächlich auch angeboten. Aber mit Blick auf eine aufwandsrelevante Nachhaltigkeit und ohne echten musikalischen Zugewinn wurde diese Idee sehr schnell verworfen.

Auch gab es Puristen, die angesichts der quantitativ beachtlichen Originalsubstanz gerne eine fiktive Hörterich-Orgel gesehen hätten. Ohne Zungenstimmen, aber mit kurzer Oktave und Mini-Pedal! Doch wie hätte man mangels zuverlässiger Referenzen eine geklonte Hörterich-Orgel disponiert und intoniert? Das einigermaßen komplett erhaltene Exemplar in Ettal weist den Dirlewanger Meister als soliden Handwerker aus, kaum aber als genialen Klangschöpfer.

Natürlich gab es auch das andere Extrem. Eine prallvolle Sammlung von Organistenwünschen: 70 Register, vier Manuale, Chamadenwerk… Wohin soll ich mich wenden, um all dies zu verräumen? Und wäre es nicht urkomisch, quölle aus dem galanten, wohl von Dominikus Zimmermann in Harmonie zum Kirchen-Interieur entworfenen Orgelcorpus eine spätromantische Klangwolke?

Über ein halbes Dutzend zeichnerisch ausgearbeitete Konzepte waren nötig, um aus dieser Situation mit allen Beteiligten eine sinnvolle und stimmige Lösung zu destillieren. Somit war der rein technische Weg fast vorgezeichnet: Orgelneubau unter Wahrung historischer Substanz. Doch der Teufel steckt im Detail– selbst im Pfaffenwinkel.

Auch die veränderte Substanz von 1757 war – wenn irgend möglich – zu respektieren. So wurde das zerschnittene Rokoko-Gehäuse behutsam stabilisiert und restaurativ ergänzt, ebenfalls 114 Metallpfeifen aus der wiederentdeckten „Sammlung Schmid“. Windladen, Trakturen (mit Abstrakten aus Karbonfasern) wurden neu gebaut, ebenso die gesamte Windversorgung. Dabei hat man die Register so positioniert, dass – wie bei historischen süddeutschen Orgeln – der Prinzipalchor in Hauptwerk und Rückpositiv wieder ein Ensemble bildet. Pedal und „Echo“ finden in einem passenden, diskret verkleideten Zubau hinter dem Hauptgehäuse ihren Platz. Auch das Echo ist ein typisch süddeutsches Teilwerk, hier besonders üppig besetzt und mit beweglichen Schalllamellen nach drei Seiten versehen.

Den Pfeifen zuhören

Waren die Re-Barockisierungs-Versuche von 1927 und 1958 stark von Theorien geprägt, so setzte man nun auf eine empirisch-systematische Herangehensweise: Klangliches Ziel war, ein aus dem Fundus süddeutscher Orgeln extrahiertes Instrument neu zu schaffen. Dazu bedurfte es ausgedehnter „Klangreisen“ zu Referenz-Instrumenten in Ettal, Maihingen, Irsee, Ottobeuren oder Benediktbeuren. Die Ergebnisse wurden technisch und musikalisch eingehend analysiert. Ersteres bezieht sich auf Bauformen, Material und handwerkliche Bearbeitung, letzteres auf die musikalische Funktion der einzelnen Register. Diese Befunde wiederum waren mit dem inzwischen sortierten Pfeifenbestand in der Wies abzugleichen und zu einer neuen Disposition zusammenzustellen.

Für Intonateur Alois Schwingshandl war es eine besonders reizvolle, aber auch zeitaufwändige Herausforderung, herauszufinden, unter welchen Voraussetzungen (Winddruck, Windzufuhr, Labienbearbeitung etc.) die vorhandenen Pfeifen am schönsten klingen. Das galt auch und besonders für veränderte Hörterich-Stimmen: So wurde zum Beispiel die Flöte 8’ im Hauptwerk in ihrer etwas dicken Klanggebung beibehalten, um sie nicht auf einen mutmaßlichen Originalton hin „vergewaltigen“ zu müssen. Diese Vorgehensweise wurde selbstverständlich auf alle Ergänzungen in der Disposition übertragen, die grundsätzlich aus dem Fundus des süddeutschen Stimmenrepertoires geschöpft sind: Prinzipale sowie differenzierte Flöten- und Streicherstimmen. Zungenregister wurden in Anlehnung an Karl Joseph Riepp gestaltet, der diese in Frankreich kennen gelernt und im nahen Ottobeuren reichlich eingesetzt hatte. Hingegen ganz neu konstruiert (orientiert an historischen, nachvollziehbaren Vorbildern) wurde die Vox humana. Kurzbechrige Zungenstimmen dieser Bauart sind in süddeutschen Orgeln seit der Renaissance als Erweiterung des Farbspektrums zwar nachweisbar, jedoch ist kein einziges Originalexemplar erhalten.

Edel, aber kein Stilmöbel: der neue, „alte“ Spieltisch

Es war nicht ganz einfach, in ein zerschnittenes Spieltischgehäuse von 1757, das für zwei Manuale, kurzes Pedal und rund 26 Züge ausgelegt war, die ungleich umfangreichere Technik einer dreimanualigen Orgel heutigen Anspruchs unterzubringen. Wochenlanges Tüfteln, Modellieren und Feilschen um jeden Millimeter aber machte es möglich, die kunstvollen Formen und Abmessungen des 18. Jahrhunderts mit heutigen Klaviaturnormen und ergonomischen Anforderungen zu einer funktionalen und gestalterischen Einheit zu verbinden. Das Ergebnis ist ein verblüffend zierlicher und ästhetisch einladender Spieltisch. Der Organist spielt wieder „vorwärts“ und blickt dabei durch ein Notenpult aus veredeltem Rauchglas direkt in den kunstvollen „Rokokohimmel“ der Wieskirche hinein. Selbstverständlich ist die mechanische Registertraktur über eine dezent integrierte elektronische Setzeranlage steuerbar. So zeigt auch der Arbeitsplatz des Organisten deutlich die Besonderheit dieses Orgelbaus: Neues mit Gegebenem schlüssig und phantasievoll zu verbinden.

Oft vergessen: die Musik
Oder: Was muss eine „Wallfahrts-Orgel“ können?


Bis ins frühe 20. Jahrhundert dürfte sich – wie in den meisten ländlichen katholischen Kirchen Süddeutschlands – die Orgelmusik weitgehend auf die Begleitung von Gesängen und Instrumentalisten beschränkt haben. Hie und da mögen alternierend Versetten und Präludien hinzugekommen sein. Bereits in der Zeit der Orgelbewegung, vor allem aber in den letzten Jahren wird ambitionierteres Literaturspiel und Improvisation gepflegt – erst recht an einem Wallfahrtsort, wo sich Scharen von Gläubigen zum gemeinsamen Gebet und Gesang versammeln. Es lohnt sich daher, über das liturgische Spektrum nachzudenken, das im Lauf eines Kirchenjahres mit seinen Fasten- und Festzeiten musikalisch abzubilden ist. Die Wies ist eine Christus-Wallfahrt, was wiederum bedeutet, dass sämtliche Christus-Lieder (und das sind mehr als man zunächst meinen würde) in unzähligen literarischen und improvisatorischen Interpretationen vorkommen: beginnend mit den Adventsliedern bis hin zu dem das Kirchenjahr beschließenden „Wachet auf“ als geniale Text- und Musikschöpfung von Philipp Nicolai.
An heiligen Orten werden traditionellerweise häufig Marien-Wallfahrtslieder gesungen; ihr oft dreistufiger Aufbau verlangt von Organisten und Instrument besonders farbige Gestaltung (Beispiel „Gegrüßet seist du Königin“). Verschiedene gottesdienstliche Formen – von der Meditation einer kleinen Gruppe bis zum Gesang von mehreren hundert begeisterter Kehlen beim Hochamt wird von einer Orgel an einem Wallfahrtsort heute alles erwartet. Sie muss daher noch flexibler, farbiger und dennoch stets geschmeidig sein. Und nicht zuletzt wird auch in der Wies ein reges Konzertleben gepflegt, das an eine neue Orgel hohe Anforderungen stellt. – Ein Wallfahrtsort ist kein Platz für geschlossene Gesellschaften, sondern steht von alters her allen offen. Auch dazu wird die neue Winterhalter-Orgel gewiss beitragen.

Markus Zimmermann

Orgelweihe
19. September 2010 mit Gerhard Gnann

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Pfarramt Wieskirche
Wies 12
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Tel. 08862/93 2 93-0


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